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Als das Tal den Atem anhielt

Die Heftreihe TEGERNSEER TAL hat sich immer wieder mit den Ereignissen und Entwicklungen der Kriegs- sowie Vor- und Nachkriegsjahre in der Region befasst. Insbesondere mit der – vergriffenen - Ausgabe 141 (Frühjahr/Sommer 2005) mit bis dahin unveröffentlichten Materialien aus den USA und der Schweiz gab der damalige Chefredakteur Dr. Michael Heim historisch Interessierten einen umfassenden Einblick.

Der folgende Beitrag von Hans Sollacher erschien 1985 (Ausgabe 94) anlässlich der 40. Wiederkehr des Weltkriegsendes. Die nahezu minutiöse Beschreibung dessen, was sich in den Tagen und Nächten zwischen dem 30. April und dem 4. Mai 1945 im Tal abspielte, hat nichts von ihrer Dramatik und Eindringlichkeit eingebüßt. Abgesehen von formalen Aktualisierungen ist der Text unverändert.

 

Aus: TEGERNSEER TAL Nr. 94 (1985) 

 
Einschlag einer Granate im See vor Rottach-Egern

Wo der Krieg zu Ende ging

Eine Handvoll Schutzengel als letztes Aufgebot

(…)
Am Montag, den 30. April 1945, nachmittags um halb vier, jagt sich der Diktator in seinem Bunker unter der Berliner Reichskanzlei eine Pistolenkugel durch den Kopf. Die Nachricht vom Tod Adolf Hitlers wird erst am 1. Mai im Rundfunk verbreitet. Am 2. Mai kapituliert das eingekesselte Berlin.

Im Tegernseer Tal war es mitten im Frühling noch einmal kalter Winter geworden. Schnee fiel. Rund 35.000 Menschen – Einheimische, Ausgebombte, Zufluchtsuchende, heimatlos Gewordene, Verwundete - waren in den Häusern, Lazaretten und Kinderlandverschickungsheimen zusammengepfercht. Sie alle wussten, dass der Spuk zu Ende ging. (…) Sie wussten von der Kapitulation der Heeresgruppen im Süden und Westen. Zunächst aber holte sie der Krieg noch einmal ein. Vor der Haustüre sozusagen. Doch wie schon so oft in seiner langen Geschichte hatte das Tal seine Schutzengel…


 

Da ist der damalige zweite Bürgermeister von Rottach-Egern, Josef Engelsberger (Vater des späteren Bürgermeisters Max Engelsberger, Anm. d. Red.). Als er erkennen muss, dass sich Verbände der SS-Division „Götz von Berlichingen“ nicht an die Abmachungen halten, die für „unverteidigte Stätten“ im Sinne der Genfer Konvention gelten (zu einer solchen war das Tal mit seinen vielen Lazaretten und Kinderheimen erklärt worden), ruft er am Morgen des 30. April im Schweizerischen Generalkonsulat an. Dieses war von München in das Haus Knorr-Wedekind an der Überfahrt umgesiedelt. Sein Gesprächspartner ist der eidgenössische Generalkonsul Dr. Paul Frei. Engelsberger bittet ihn, die Amerikaner wissen zu lassen, dass sich die Gemeinden kampflos ergeben werden (Ein Ansuchen, für das er und seine Amtskollegen ihr Leben riskieren. In vielen Kommunen Bayerns sterben in den letzten Kriegstagen Menschen, die versuchen, ihre Heimatgemeinden auf diese Weise vor der Zerstörung zu bewahren, u.a. in Penzberg und Altötting. Sie wurden wegen Wehrkraftzersetzung oder Fahnenflucht aufgehängt oder erschossen. Schon ein weißes Tuch, aus dem Fenster gehängt, kann ein Todesurteil sein. Dies entsprach dem Nachkriegs- und Überlebenskonzept des Nationalsozialismus. Die Befehlshaber, Kommandeure und Unterführer sollten den feindlichen Armeen nur verbrannte Erde hinterlassen; Anm.d.Red.).

Der Konsul verspricht, dies zu tun, und erhält noch am selben Tag von Engelsberger folgendes Schreiben: „Ich ermächtige, zugleich im Namen der Gemeinden Tegernsee und Bad Wiessee, das schweizerische Generalkonsulat, Herrn Generalkonsul Dr. Frei in Egern, die kampflose Übergabe der drei genannten Gemeinden einzuleiten und durchzuführen. Die näheren Einzelheiten wurden mündlich besprochen und vereinbart. Die Einwilligung von Tegernsee und Bad Wiessee wurden dem Generalkonsul durch die Bürgermeister telefonisch gegeben.“

Lazarettstadt Tegernsee: In jedem der mit einem roten Kreuz markierten Gebäude waren Verletzte und Verwundete untergebracht.

Mit Dr. Frei hatte das Tal seinen „Ober-Schutzengel“ gefunden. Er kontaktierte den Holzkirchner Bürgermeister und bat ihn um Nachricht, sobald die Amerikaner dort einrückten. Er musste nicht lang warten. Schon am Tag darauf, am 1. Mai, meldete das Holzkirchner Gemeindeoberhaupt, dass amerikanische Panzer den Ortseingang erreicht hätten. Es konnte also nicht mehr lange dauern, bis sie am Tegernsee-Nordufer auftauchten. Mit zwei seiner Mitarbeiter fuhr ihnen Frei entgegen. Im Gasthof Kreuzstraße wollte er auf sie warten. Doch die Amis ließen sich Zeit. Von fünf Uhr nachmittags an bis nachts um halb elf. Er wusste, dass die Amerikaner während der Nacht keine Panzerbewegungen durchführten und fuhr durch die von deutschem Militär verstopften Straßen über Wiessee wieder heim. Tags darauf, am 2. Mai, begab er sich nochmals ins „Niemandsland“ und bezog Wartestellung an der vereinsamten Kreuzstraße. Die deutschen Truppen waren überwiegend in Richtung Schliersee und Achenpass abgezogen. Wieder warteten Frei und seine Mitarbeiter Pfenniger und Schocher zwei Stunden. Es rührte sich nichts. Also fassten sie den Entschluss, nach Norden weiterzufahren.

Bronzebüste des schweizer Generalkonsuls Dr. Paul Frei
Der schweizerische Generalkonsul Dr. Paul Frei (Büste von Arnold Breker im Seeforum)

Obwohl sie die schweizerische Fahne groß über das Autodach gespannt hatten, gehörte viel Mut zu diesem Unternehmen. Die Detonationen von Artilleriegranaten und die ausgebrannten Autos am Straßenrand sprachen eine deutliche Sprache. Doch das Wetter war diesig, es schneite leicht, so dass Tieffliegerangriffe ausblieben. Sie fuhren schnell und trafen endlich bei Lochham auf amerikanische Posten, die sie glatt passieren ließen. Wenig später saßen sie Major Williams Evans gegenüber, dem Chef der 12. US-Infanteriedivision und verantwortlich für das Operationsgebiet. Auch er entpuppte sich als eine Art von Engel. Seine Zusage: Wenn die Deutschen dafür sorgten, dass beim Herannahen seiner Truppen die weißen Fahnen gehisst und von den der Gemeinde unterstehenden Gruppierungen (Volkssturm usw.) kein Widerstand geleistet werde, dann werde es in den drei Orten keine Kampfhandlungen geben.

Die Amerikaner hatten also ihr Wort gegeben. Nun kam der schwierigere Teil. Denn mittlerweile hatten SS-Verbände aus dem Tölzer Raum im Tal ihre Abwehrpositionen bezogen. Straßensperren, MG-Nester, unterminierte Brücken, Panzerabwehrgeschütze beherrschten die Szene. Trotz des Freitods von Adolf Hitler standen Fanatiker zu dem irrsinnigen Durchhaltebefehl: „Das Tal muss bis zum letzten Mann verteidigt werden.“ Ihnen war es gleichgültig, ob darüber 35.000 Menschen – unter ihnen 13.000 Verwundete in Lazaretten - in tödliche Gefahr gerieten. Viele Zivilisten gerieten in Panik, packten ihre Bündel und suchten Zuflucht auf Almen und Berghütten. Die auf Gmund vorrückenden US-Verbände wurden mit Artilleriefeuer empfangen. Es gab Verwundete und Tote. Einer jungen Frau wurden ein Arm und ein Bein vom Körper gerissen. Häuser in Tegernsee, Bad Wiessee und Gmund erhielten Treffer. Teile des Gundisch-Hofes in Holz brannten ab. Am 2. Mai sprengten SS-Einheiten die Eisenbahn- und die Straßenbrücke sowie die Brücke an der Maschinen- und Büttenpapierfabrik in Gmund. Major Evans musste glauben, die Vermittlung von Konsul Frei sei eine Seifenblase gewesen.

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