Kultur
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Dieser erste Lockdown traf Wiesensee auf dem Höhepunkt seiner bisherigen Karriere, viele für ihn wesentliche Konzerte wurden abgesagt oder verschoben. Er sei schockiert und wie erstarrt gewesen, bekennt er freimütig. Dem zweiten Lockdown konnte er demgegenüber mit Gelassenheit und Zuversicht begegnen, sogar Zeit und Möglichkeitsräume, die sich durch die Beschränkungen öffneten, positiv nutzen. So führte er mit Literaturkritiker Denis Scheck ein Gespräch über Friedrich Hölderin, dessen 250. Geburtstag im Jahr 2020 ebenfalls schon pandemisch überschattet war. Wiesensee, der dabei als Fragender auftrat, hat das philosophische Fachgespräch aufgezeichnet und arbeitet aktuell an einer Veröffentlichung. Vor allem aber gründete er inmitten des Stillstands ein neues Kammermusik- Ensemble: Trio Solaris, benannt nach dem fremden Planeten eines Science-Fiction-Romans und -Films, der eine große Faszination auf die Menschheit ausübt, ohne jemals ergründbar zu sein. „Das erschien uns ein gutes Gleichnis für die Musik“, sagt der Pianist.

Dass sich Amadeus Wiesensee mit Cellistin Simone Drescher aus Berlin und Geiger Moritz Ter-Nedden aus Hannover zusammentat und sich sinnfüllend wochenweise und coronaregel-konform zu temporären Arbeits-WGs zusammenfand, anstatt sich dieser „Naturkatastrophe in Zeitlupe“ zu ergeben, hat – so sieht er es selbst – auch viel mit dem vielgerühmten „Genius loci Tegernsiensis“ zu tun. Der prägte und inspirierte als „Gesamtpaket aus ehrenamtlich getragenem Kulturengagement, Landschaftlichkeit, den Lebensgrundsätzen aus der benediktinisch geprägten Schule und der Anleitung verschiedener Lehrerpersönlichkeiten“ nicht nur Wiesensee in seiner Jugend, sondert vermag offenbar auch auswärtige Künstler zu binden. Nachdem Amadeus Wiesensees ursprüngliche Konzertpartnerin für das Tegernseer „Podium junger Solisten“ ausgefallen war, sprangen kurzfristig Simone Drescher und Moritz Ter-Nedden ein, die der Pianist kurz zuvor auf dem PODIUM Festival Esslingen kennengelernt hatte. In der Folge erlebten Drescher und Ter-Nedden bei dem umjubelten Konzert im Barocksaal den Tegernseer Geist - und das Publikum die Geburtsstunde eines Trios, von dem man sicherlich noch hören wird.

Wichtig wäre, dass sich die Musikbranche und der Konzertmarkt wieder beruhigen und die Nachfrage nach Kammermusik anwächst. „Hier tobt nach Corona ein knallharter Verteilungskampf. Der Markt ist derzeit brutal und nicht gerecht. Sehr viele gute Musiker mussten ihre Karriere aufgeben“, bedauert Amadeus Wiesensee, der zu den Überlebenden gehört, obwohl oder weil er mit seiner Kunst auf das musikalische, physisch wahrnehmbare Live-Erlebnis setzt, das situativ geboren wird und dadurch lebendig, wandelbar und stets einzigartig ist. Das ist übrigens auch ein Grund, warum sich Amadeus Wiesensee trotz etlicher Angebote von Plattenfirmen noch nicht zu einer CD entschließen konnte. Selbst wenn das ein oder andere seiner Konzerte aufgezeichnet oder gestreamt wird: Amadeus Wiesensee setzt auf den Augenblick, denn er möchte wandelbar und entwicklungsfähig bleiben, damit seine Kunst stets aktuell ist und berührt.

Amadeus Wiesensee im Gespräch mit Denis Scheck
Das Gespräch mit Literaturkritiker Denis Scheck im Garten des Beethoven-Hauses anlässlich des 250. Geburtstages von Friedrich Hölderin hat Amadeus Wiesensee aufgezeichnet. Demnächst soll es zu hören sein.


Mehr Wiesensee gibt es voraussichtlich am 1. Oktober im Deutschlandfunk (Interview und Konzertmitschnitt aus der Synagoge in Breslau), im Oktober, Januar und April mit drei unterschiedlichen Programmen im Beethovenhaus in Bonn, im Dezember bei der Verleihung des Bayerischen Kunstförderpreises und am 26. Dezember auf Schloss Elmau, wo er Bachs Goldberg Variationen präsentieren wird. An deren Rezeption hat Amadeus Wiesensee fünf Jahre lang gearbeitet.

Alexandra Korimorth

 
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