Kultur
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Aus den Aufzeichnungen des Heinrich Noë

Eine ziemlich unvorhersehbare Winterreise

Wenn das Schicksal auch nur ein wenig anders getickt hätte, wäre er der Menschheit seinen allerletzten Reise - bericht schuldig geblieben, nämlich Aufzeichnungen über ein Unternehmen, das man getrost als aberwitzig bezeichnen darf: Der Schriftsteller Heinrich Noë beschließt, vor seiner Weiterreise nach Tegernsee vor hundertfünfzig Jahren, am Silvestertag 1864, von Achenkirch aus das winterliche Ost-Karwendel zu durchqueren. Einfach mal so, mit einer Feldflasche Wein und Kletzenbrot im Gepäck und einem armen, treuen Hund an seiner Seite. Er überlebte und was er anschließend niederschrieb und in seinem »Bairischen Seebuch« (1865) veröffentlichte, ist in mancherlei Hinsicht ein bemerkenswertes Zeitzeugnis, vor allem über das Leben in den Bergen, es zeigt aber auch, wie der Reiseschriftsteller Noë bis zur letzten Konsequenz bereit ist, »Erfahrungen« nicht per Postkutsche zu sammeln, sondern zu »erwandern«, um sie an seine Leser weitergeben zu können. Er hält es mit Goethe, der sagte: »Was ich mir nicht erlernt habe, das habe ich erwandert.« Und Noë ergänzt noch: »Die Versenkung in die reine Idee ist die Wurzel des Naturgenusses.«

Noë kommt auf seinem Weg durch Tirol ins Tegernseer Tal im Dezember 1864 mit dem Zug nach Jenbach, steigt dann auf dem Sträßlein durch das steile Kasbachtal hinauf zum Achensee-Plateau, jeden Augenblick bereit, »den Holz- und Kohleschlitten auszuweichen, welche ohne Zugthier mit rasender Geschwindigkeit zu den Eisenwerken in Jenbach herabschießen.« Am Achensee wird er dann in einem Tiroler Tusculum einkehren, dem legendären Gasthaus »Scholastika«, und in der »Post« zu Achenkirch wird er logieren. Es ist die Zeit zwischen den letzten Adventtagen und Silvester, in der »Scholastica« sind seine Tischgenossen k.k. Offiziere, Professoren aus Innsbruck, norddeutsche Touristen, Münchner Vergnüglinge, wie er schreibt, Studenten, Maler und einige vom unvermeidlichen Wandervolk der Vereinigten Königreiche.

In der Achenkirchner »Post« begegnet er in der Kellnerin Moidl einem Phänomen von – für uns – zeitnaher Gültigkeit, für ihn verkörpert das Mädchen nämlich »als ächte Tirolerin auch die einnehmende Freundlichkeit, der man in Tirol viel häufiger begegnet als in dem rauheren Baiern.« Noë glaubt dies so erklären zu können: »Der Tiroler hat in vielen Fällen etwas, was an den Schliff seiner südlichen Nachbarn erinnert, während die Landbewohner Baierns im Verkehr das bäuerische Wesen oft mehr nach seiner dunklen, als nach seiner Lichtseite darstellen.«

In diesen Dezembertagen mit den ausklingenden Rauhnächten durchlebt Noë mit seinem ganzen Sensorium eine eigentümliche Welt, die seltsamsten Dinge umschwirren ihn: Sagen, Mythen und Hexenglauben, er hört von den »Perchterln«, das sind Kinder der heidnischen Göttin Perchta, die nachts aus den kleinen geduckten Bauernhäusern zum Fenster rausschauen, die Tiroler Nachbarn erzählen ihm vom »Quickezer «, einem etwas fabelhaftes Tier, wie er vermerkt, dessen Stimme in der Nacht nichts Gutes verheißt, und er sieht im Geiste schon die »Fliegende Habergais«, die den Tod bringt, wenn sie sich jemandem auf die Schulter setzt. Aus der Christmette zu Achenkirch weiß er von folgender Überlieferung zu berichten: »Wer während der heiligen Wandlung auf einem Schemel von neunerlei Holz sitzt und dann rückwärts durch die Beine nach dem Altar blickt, sieht unter den betenden Frauen diejenigen, welche Hexen sind, auf dem Kopf in den Beichtstühlen stehen. Und in all den Nächten, wenn die Wilde Wolkenjagd über den Juifen und die Schreckenspitz reitet, im Sturmbrausen und Rauschen der Ache mag er noch das Pfarrerwort an die armen kleinen Bauersleut im Ohr haben: »Wehe, wie Schneeflocken stöbert ihr Alle der Hölle zu.«

Heinrich Noe

 

Heinrich Noë (geboren 1835 in München, gestorben 1896 in Bozen) war einer der bedeutenden europäischen Reiseschriftsteller des 19. Jahrhunderts. Vor allem seine Bücher aus dem Alpenraum machten ihn zu einem »Bahnbrecher « im aufkommenden Fremdenverkehr. Seinem »Bairischen Seebuch« von 1865, dem die nebenstehenden Schilderungen entnommen sind, verdanken wir viel Wissenswertes aus dem benachbarten Tirol und vor allem aus dem Tegernseer Tal. Ohne Noë wären Lebensbilder »aus dem Tegernsee der Wittelsbacher«, Wildschützen-Dramen und Überlieferungen aus Mythen und der Welt der Sagen heute vergessen.
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