Das mit der Emanzipation war auch beim Rodeln so eine Sache. Geradezu explosionsartig stellte sich das Problem, als einige Tegernseerinnen im Februar 1903 im Alleingang zu einem Frauen-Preisrodeln von der Neureuth hinunter zum Westerhof einluden. Das Echo war überwältigend, Hunderte von Zuschauern (auch Männer) bejubelten die tollkühnen Damen auf den zischenden Kufen, Siegerin wurde übrigens Frau Daucher mit der Zeit von 9:55 Minuten, aber anderntags schlug der Tegernseer Frauen-Verein vom Rothen Kreuz zurück und distanzierte sich per Zeitungsanzeige: Das Preisrodeln sei keineswegs vom Frauen-Verein veranstaltet worden, »da derselbe der Emanzipations-Frage der Frauen völlig ferne steht«.
Einige Rodlerinnen antworten daraufhin, gleichfalls per Annonce: »Sehr kleinlich dürfte es hiebei sein, den Rodelsport mit der Emanzipationsfrage in Verbindung zu bringen...Daß allerdings das Rodeln und die diesem Sport huldigenden Frauen Tegernsee‘s, wo doch der Rodelsport besonders in neuerer Zeit immer festeren Fuß gefaßt hat und von Fremden und Einheimischen eifrig gepflegt wird, nicht von allen Seiten in gleicher Weise verurtheilt worden, dürfte die rege Antheilnahme und der bewiesene Beifall bei der Preisvertheilung hinlänglich bezeigen...«
Darauf ein Leserbrief, zwar anonym, aber immerhin bekennt sich der Einsender als »Ehemann einer rodelnden und radelnden nicht emancipirten Hausfrau«. Er schrieb, und das möglicherweise auch seinen Stammtischbrüdern ins Buch: »Es mögen die Tadelnden nicht vergessen, dass wir uns im Gebirge befinden und dass das Rodeln für die Gebirgsbewohner nicht Sport, sondern das natürliche Beförderungsmittel von den hochgelegenen Höfen zum Thale ist...Und wenn jetzt Mann und Frau die erlangte Fertigkeit im Wettlaufe erproben, so geben sie sich einem ebenso gesunden als harmlosen Vergnügen hin, das mit der Emanzipation der Frauen ebensowenig etwas zu thun hat, wie Rudern, Schwimmen oder Kegelschieben, wohl aber unseren Bergen jetzt auch im Winter die Anziehungskraft verleiht, die sie sonst nur im Sommer besessen haben.«
Die Frage, wer nun mit wem Schlitten gefahren ist, beschäftigt die Gemüter in Tegernsee noch über Wochen, allmählich überwiegt die Einsicht, dass die rodelnden Damen doch ein Zeichen gesetzt hätten: Für Nervenleidende und Wintersport in Tegernsee. Es ist allerdings wiederum ein Anonymus, der im »Seegeist« feststellt: »Hochgebirgskuren im Winter zeichnen sich durch trockene Luft, Staubfreiheit, erhöhte Blutzirkulation durch niedrigere Temperaturen etc. aus. Gerade Nervenleidende finden in den ruhigeren Wintertagen, neben besagten Witterungsfaktoren, auch durch Hebung der Ernährung eine Heilung ihrer Leiden. Es mag auch darauf hingewiesen werden, dass auch alle die einfach Erholungsbedürftigen, die Ueberarbeiteten, die durch Aufregungen, Sorgen, Kummer Heruntergebrachten, kurz, alle die Menschen, die im Sommer einige Wochen ins Gebirge oder an die See zu gehen pflegen, mit noch größerem Nutzen im Winter für einige Zeit ins Hochgebirge gehen sollten; der Erfolg wird jedenfalls ein sicherer sein als dies in der Sommerhitze und in den überfüllten ´Sommerfrischen´ der Fall zu sein pflegt.«
Michael Heim (†)