Geschichte

Als die Reformation in Tegernsee ankam:
Erster evangelischer Gottesdienst im Tal vor 200 Jahren

Das Erbe der frommen Königin

Weltweit wird im Jahr 2017 daran erinnert, dass vor 500 Jahren der Augustinermönch und Theologieprofessor Martin Luther in Wittenberg mit seinen Thesen an die Öffentlichkeit trat und damit (freilich ohne die Folgen zu ahnen) den Auftakt zur Reformation gab. Im Tegernseer Tal ebnete 300 Jahre später niemand Geringeres als eine Königin dem evangelischen Glauben den Weg. Auf Wunsch von Karoline von Bayern wurde 1817 im Tegernseer Schloss der erste evangelische Gottesdienst im Tegernseer Tal gefeiert.

Bekanntlich war das alte Herzog- und Kurfürstentum Bayern über Jahrhunderte ausschließlich katholisch. In der Ära Napoleons aber änderte sich vieles: Die Säkularisation von 1803 brachte nicht nur das Ende des Klosters Tegernsee. Im selben Jahr erließ Kurfürst Max IV. Joseph (ab 1806 König Max I. Joseph) für sein – nun um traditionell evangelische Gebiete vergrößertes – Land ein Edikt über die Religionsfreiheit. Seitdem besaßen Katholiken, Lutheraner und Reformierte das Recht freier Religionsausübung und gleiche bürgerliche Rechte. Kurz darauf wurden auch gemischte Ehen erlaubt.

Königin Karoline von Bayern, Portrait von Joseph Stieler
Königin Karoline von Bayern. Das Original des 1816 vom Hofmaler Joseph Stieler geschaffenen Porträts hing einst im Privatappartement des Königs in der Münchner Residenz. 2016 gelang es, in einem Münchner Auktionshaus eine Kopie von der Hand des »offiziellen« Stieler-Kopisten Georg Dury zu ersteigern. Sie wird im Sommer 2017 in der Wittelsbacher-Sonderausstellung des Museums Tegernseer Tal zu sehen sein.

Der Landesherr selbst war schon seit 1797 mit der evangelischen Prinzessin Karoline von Baden verheiratet. Im Ehevertrag war festgelegt, dass sie nicht nur »allezeit die vollkommenste Gewissens-Freyheit« genieße, sondern auch an jedem Ort »in der Übung der protestantischen Religion« uneingeschränkt sein solle. Sie konnte protestantische Bediente haben, insbesondere aber »einen Cabinets-Prediger ihrer Religion«, um am jeweiligen Residenzort »Privatgottesdienst« in einem »besonderen Zimmer« für sie und ihre protestantische Dienerschaft zu halten.

Als ihren Kabinettsprediger suchte sich die junge Kurfürstin Karoline 1799 einen badischen Landsmann aus, den damals 35-jährigen Dr. Ludwig Friedrich Schmidt. Bis zu ihrem Tod wollte sie ihn immer zu ihrer persönlichen Verfügung haben – nicht weniger als 42 Jahre lang. »Der Schmidt ist mein und wird bei mir bleiben«, entgegnete sie ihrem Sohn Ludwig I., als dieser wünschte, der Geistliche möge als Hofprediger in den Dienst seiner (ebenfalls evangelischen) Gemahlin Therese treten. Dementsprechend folgte Dr. Schmidt der frommen Kurfürstin bzw. Königin auch auf Reisen und zu den wechselnden Residenzen. So bildete sich um ihn nicht nur die erste protestantische Gemeinde in München, sondern er feierte evangelischen Gottesdienst natürlich auch während der Sommeraufenthalte des Hofs am Tegernsee.

Wann auf diese Weise der allererste evangelische Gottesdienst im Tegernseer Tal stattfand, lässt sich nicht ganz genau sagen. Aber weil die königliche Familie nach dem Kauf erstmals im Juni 1817 für zwei Tage und dann (samt Hofstaat) wieder Ende August für eine Woche nach Tegernsee kam, darf man annehmen, dass es bereits in diesem Jahr war.

Für die evangelischen Gottesdienste wurde im Schloss eigens ein »Betsaal« eingerichtet. Von dessen Lage und Aussehen wissen wir leider nicht viel. Ein früher Reiseführer von 1832 sagt nur, er sei »in würdevoller Einfachheit ausgestattet« und besitze »Orgel und Kanzel«. Ein anderer von 1838 lokalisiert ihn (ohne nähere Angabe) im ersten Stock des Schlosses. Dies passt zu der in der herzoglichen Familie bestehenden Überlieferung, der frühere Betsaal sei heute das Besprechungszimmer des Herzoglichen Brauhauses. So darf man die Königin wohl von dem (immer wieder zu lesenden) Vorwurf freisprechen, sie habe in protestantischer Nüchternheit die barocke Ausstattung des Kloster- Refektoriums (heute Bibliothek des Gymnasiums im Erdgeschoß unter dem Barocksaal) zerstören lassen, um daraus einen nichtssagenden privaten Andachtsraum zu machen. Denn der Tegernseer Kaspar Petzenbacher notierte noch im September 1820, im ehemaligen Refektorium habe ein »Freiball« stattgefunden.

Wo auch immer: Wenn der Hof in Tegernsee war und erst recht, als die 1825 verwitwete Königin stets den ganzen Sommer und Herbst in Tegernsee zu verbringen pflegte, predigte Dr. Schmidt regelmäßig für seine Dienstherrin und deren evangelisches Gefolge. Im Normalfall tat er das »vor einer wenig zahlreichen gebildeten Versammlung«. Aber wenn – und das war nicht selten – hoher Besuch evangelischer Konfession nach Tegernsee kam, waren unter seinen Zuhörern auch gekrönte Häupter. Der evangelische Gottesdienst »in der freundlichen Schlosskapelle« scheint aber auch der (natürlich durchweg katholischen) einheimischen Bevölkerung offen gestanden zu sein. Und diese hat die Gelegenheit, einmal jemand anderen als den eigenen Pfarrer zu hören, offenbar genutzt. Denn Schmidt schreibt in seinen Lebenserinnerungen: » … ich … hatte auch unter diesen stockkatholischen Bergbewohnern viele aufmerksame Zuhörer.« Zu den Zuhörern zählten zeitweilig (nämlich bis zu ihrer zwangsweisen Umsiedlung ins preußische Riesengebirge 1837) auch evangelische Tiroler aus dem Zillertal. In ihrer Heimat war ihnen die öffentliche Ausübung ihres Glaubens verwehrt. So nahmen sie den langen Weg über den Achensee in Kauf, um in Schloss Tegernsee am protestantischen Gottesdienst teilzunehmen. Der Kabinettsprediger versorgte sie auch mit Gesangbüchern – alles mit Duldung der Königin und ungeachtet möglicher diplomatischer Schwierigkeiten.

Später hat Schmidt auf vielfache Bitten eine Auswahl seiner Tegernseer Predigten unter dem Titel »Christliche Reden und Betrachtungen bei dem Privat-Gottesdienste weil. Ihrer Majestät der verw. Königin von Bayern« veröffentlicht. Da er an die kirchliche Leseordnung nicht gebunden war, legte er seinen Ansprachen fast ausschließlich Worte Jesu aus den Evangelien zugrunde. Leider findet man deshalb darin keine Bezüge auf Tegernsee oder auf zeitgenössische Ereignisse.

Der Kabinettsprediger genoss in der königlichen Familie eine Vertrauensstellung. So leistete er 1823 in Tegernsee wichtige Vermittlerdienste bei der konfessionspolitisch heiklen Anbahnung der Ehe der (katholischen) Königstochter Elisabeth mit dem (natürlich protestantischen) Kronprinzen von Preußen, dem späteren König Friedrich Wilhelm IV. 1824 erwirkte er beim Königspaar die Schenkung der ehemaligen Chororgel der Tegernseer Kirche an die evangelische Kolonisten-Gemeinde von Großkarolinenfeld bei Aibling. Die Königin-Witwe betraute ihn 1828 mit der Rede bei der Grundsteinlegung für das Königs-Denkmal in Wildbad Kreuth und übertrug ihm auch die Ober-Administration ihrer Besitzungen am Tegernsee, was ihn »vielfach, aber angenehm beschäftigte«. »... ich lebte glücklich im Schoosse einer reizenden Natur, genoss die Annehmlichkeiten eines glänzenden Hofes, und das Gefühl einer nützlichen Thätigkeit, welches die Arbeit zum Genusse machte noch am späten Abend meines Lebens.«

Schmidts Beziehungen zu Tegernsee endeten mit dem Tod der Königin. Er war ihr in ihrem langen Leiden (an »Brustwassersucht«) beigestanden. Am 18. November 1841 hielt er in München »an der Bahre« der Verstorbenen die Trauerrede, die er dem Band mit seinen Tegernseer Predigten als »Zugabe« beifügte und mit der er »einer angebeteten und allzufrüh verstorbenen Fürstin« ein Denkmal setzte.

Katholischerseits tat man sich mit dem Andenken an die Protestantin allerdings schwer. Hatte sie ein Jahr vor ihrem Tod für ihren Gemahl einen »ewigen Jahrtag « in der Tegernseer Kirche gestiftet, um die Seelengottesdienste dauerhaft zu sichern, so scheiterte ihr Stiefsohn und Erbe Prinz Karl mit der Absicht, ein gleiches für Karoline zu tun. Möglich war nur eine jährliche Messe an ihrem Todestag, die allgemein »für die Verstorbenen des Königlichen Hauses Bayern« gefeiert wurde.

Mit dem Tod der Königin hörten auch die regelmäßigen evangelischen Gottesdienste in Tegernsee auf. Die (wenigen) hier ansässigen und die in Sommerfrische weilenden Protestanten waren nun auf einen Reiseprediger angewiesen, der aus München, Rosenheim oder Tölz kommen musste. Zwei- bis dreimal im Jahr war es diesem vorgeschrieben, Tegernsee aufzusuchen und die Protestanten der Umgegend zum Abendmahls-Gottesdienst zu versammeln. Der nunmehrige Schlossherr Prinz Karl gestattete, dafür die evangelische Kapelle im Schloss zu nutzen. Ab 1888 fanden die Gottesdienste für die immerhin schon 30 einheimischen evangelischen Familien und die immer zahlreicher werdenden Sommergäste im neuen Rathaussaal statt. Auch der wurde bald zu klein, so dass man 1890 einen »Protestantischen Kirchenbau-Verein« gründete, der es dank zahlreicher, meist adeliger Stifter in kurzer Zeit fertig brachte, an der Hochfeldstraße in Tegernsee eine eigene evangelische Kirche zu errichten. 1894 wurde sie feierlich eingeweiht und ist damit die älteste evangelische Kirche zwischen Rosenheim und Tölz.

Begonnen hatte die evangelische Gottesdienst-Tradition am Alpenrand 77 Jahre zuvor mit der frommen Königin und ihrem Kabinettsprediger.

Roland Götz